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ISSN: | 1868-7806 |
Ausgabe / Jahr: | 1 / 2024 |
Veröffentlicht: | 2024-01-11 |
In der Geschichtsschreibung des deutschsprachigen Romans sind die Jahrzehnte um 1700 noch immer unterbelichtet. Der vorliegende Aufsatz will zur Erforschung der Erzählliteratur zwischen Barock und Aufklärung beitragen, indem er die heterogene Romanproduktion dieser Übergangszeit aus einer ‚distanzierten‘ Perspektive sichtet. Hierfür wurden über 900 Romantitel gesammelt und verschlagwortet. Ein Ergebnis der Analyse zeigt die wachsende Bedeutung der Figur, die sich im Zuge der um 1700 zu beobachtenden Gattungs-Experimente als neue Zentralgröße des Romans herauszukristallisieren scheint.
Das „Üben“ ist als „exercitatio“ integraler Bestandteil der antiken Rhetorik, und es gehört selbstverständlich auch zu einem vormodernen, an der Rhetorik orientierten Dichtungsverständnis. Mit der Ablösung von der Regelpoetik und der Fundierung der Kunst auf der Ästhetik als neuer Disziplin wird das Üben nicht hinfällig, es verändert aber seine Form und Funktion. Der Aufsatz geht in einem ersten Teil der Neuinterpretation der „exercitatio“ in Baumgartens „Aesthetica“ nach, um sich im Anschluss der Konzeption des Übens in Karl Philipp Moritz’ Stillehre sowie konkreten Schreibübungspraktiken in dem Roman „Anton Reiser“ zuzuwenden. Besondere Beachtung finden dabei Beobachtungsübungen, die mit den Instanzen der Fremdüberprüfung und -korrektur die soziale Dimension der Übung in den Blick rücken.
Justinus Kerner (1786–1862) ist für die germanistische Literaturwissenschaft immer noch eine wenig beachtete Randfigur. Dabei hat der schwäbische Arzt und Dichter mit den „Reiseschatten“. Von dem Schattenspieler Luchs“ (1811) nicht nur das wohl bemerkenswerteste Schattenspiel der deutschen Literatur verfasst, sondern gleichzeitig das Musterbeispiel eines romantischen Romans vorgelegt und, wie im Beitrag gezeigt wird, auf der Grundlage einer epischen Verknüpfung von mehreren „Schattenreihen“ nach dem Vorbild romantischer Universalpoesie ein konzeptionelles Gesamtkunstwerk geschaffen.
Der Beitrag zeigt auf, wie Robert Musil seine im südtirolischen Fersental angesiedelte Novelle „Grigia“ (1921) entlang eines typischen kolonialen Narrativs erzählt: Die Begegnungen des aufgeklärt-zivilisierten europäischen Mannes finden an einem als weiblich imaginierten, vorpatriarchalen Ort statt, von dem eine potenzielle Ansteckungsgefahr ausgeht. Die im Text präsenten Oppositionen – Wildheit vs. Zivilisation u. a. –, erweisen sich jedoch als keineswegs stabil, sondern werden als männliche Projektionen erkennbar.
Thomas Manns Novelle wird von ihrer narrativen Struktur geprägt. Der Erzähler berichtet nicht nur von Ereignissen während eines familiären Sommerurlaubs im Italien des Faschismus, sondern konfrontiert sich und sein Publikum mit der Erfahrung der eigenen Verführbarkeit. Dieses Eingeständnis versteckt sich, weil es vom Selbstbild des souveränen Intellektuellen abweicht, verschämt in narrativen Manövern, die zunächst nebensächlich wirken. Richtet man jedoch den Blick auf die nachzeitige Erzählsituation und folgt dem Leitmotiv der Ansteckung, dann verschiebt sich die Stellung des Erzählers zum Geschehen, der sich letztlich als eigentliche Hauptfigur der Novelle entpuppt.
Die Literatur der Zwischenkriegszeit zeigt sich fasziniert von dem neuaufkommenden Medium Rundfunk und der ihm zugrundeliegenden Übertragungstechnik: den Radiowellen. Dieser Artikel untersucht, wie Radiowellen zu literarischen Reflexionsfiguren einer Welt werden, die sich zunehmend vernetzt. Über das Radio werden neue Spielstätten erschlossen und Szenerien entgrenzt, zeitgleich wird eine grundsätzliche Verunsicherung im Umgang mit Phänomenen der Übertragung verhandelt, die eine dezidiert politische Dimension aufweist.
Cyril de Beuns Dissertationsschrift widmet sich einem auffälligen Forschungsdesiderat. Denn obwohl Schriftsteller:innen im deutschsprachigen Raum besonders seit dem 19. Jahrhundert in unterschiedlichen institutionellen Kontexten öffentliche Reden halten, ist das Phänomen der Schriftstellerrede bislang selten systematisch untersucht worden. Das liegt zum einen, wie der Autor eingangs herausstellt, an der Subsumierung unter die Kategorie ‚Essay‘, in die viele der ursprünglich als Reden gehaltenen Texte in Werkausgaben eingeordnet werden, zum anderen, so ließe sich darüber hinaus vermuten, an der tendenziellen Vernachlässigung von Texten, die als periphere Nebenwerke oder als kommentierende Epitexte zu den ‚eigentlichen‘ Werken aufgefasst werden. Nicht zuletzt wird von de Beun auch eine aus der historischen Entwicklung zu erklärende deutsche Abneigung gegen das Rednerische erwogen.
„Wer den Lauf der menschlichen Dinge kennt, und weiß, wie dasjenige oft im Fortgange des Lebens sehr wichtig werden kann, was anfänglich klein und unbedeutend schien, der wird sich an die anscheinende Geringfügigkeit mancher Umstände, die hier erzählt werden, nicht stossen“, schreibt Karl Philipp Moritz 1785 im Vorwort zu „Anton Reiser“. Dass solche Beobachtungen alltäglicher Kleinigkeiten auch für den Göttinger Experimentalphysiker Georg Christoph Lichtenberg und seine in den „Sudelbüchern“ materialisierten intermediären Reflexions- und Schreibpraktiken zentral sind, zeigt Elisabetta Mengaldo in ihrer Studie.
In ihrer Studie befasst sich Cornelia Zumbusch, wie schon der Titel ankündigt, mit der Rolle, die der Schnittpunkt von Geschichte und Vorgeschichte für die Literatur des 19. Jahrhunderts einnimmt. Damit eröffnet sie einen spannenden Neuzugang zur Literatur dieser Epoche. „Was keine Geschichte ist“ kann heißen: was nicht erzählt wird, wurde oder sich nicht erzählen lässt, aber auch: was nicht Eingang in die offizielle Historiographie der res gestae gefunden hat.
Alexander Kling und Johannes F. Lehmann legen mit diesem rund 400 Druckseiten umfassenden Band eine kommentierte Edition des zuerst 1817 erschienenen komiktheoretischen Hauptwerks des hochproduktiven Weimarer Schriftstellers Stephan Schütze vor. Schütze gehörte in den erweiterten Kreis um Goethe, seine allgemeinere Bekanntheit reichte aber nicht über das 19. Jahrhundert hinaus.
Die Studie von Sven Schöpf nimmt Walter Benjamins Buch „Ursprung des deutschen Trauerspiels“ an seiner Erstausgabe von 1928 auf; da, wo die graphische Darstellung der Druckschrift eine singuläre Besonderheit aufweist, welche die Wahl der Type, genauer die Form der Linie der gedruckten Buchstaben betrifft. Bekanntlich forderte Walter Benjamin für sein Buch eine gebrochene Schrift. „Auch winkt mir endlich eine allein angemessene Fraktur“, schreibt er am 22. Dezember 1924 aus Berlin an Gershom Scholem.
Nichts weniger als eine editorische Großtat gilt es zu vermelden: Zwischen 1909 und 1938 veröffentlichte der Talmudgelehrte Louis Ginzberg (1873–1953) unter dem Titel „Legends of the Jews“ eine monumentale Sammlung der traditionellen, auf die biblische Literatur zurückgehenden jüdischen Erzählliteratur in englischer Sprache. Verfasst hatte Ginzberg das Manuskript der im Druck dann insgesamt sieben Bände umfassenden Anthologie – darunter 4 Bände mit Erzähltexten und 3 Bände mit Anmerkungen und Indices – überwiegend in deutscher Sprache.
Nico Schmidtner verfolgt in seiner Dissertation zwei Vorhaben: Er untersucht einerseits die „Doppelfunktion und -identität Döblins als Autor und gleichzeitig ‚Kulturpolitiker‘ und Herausgeber“, andererseits seine Autorschaftsinszenierung. Dabei konzentriert Schmidtner sich auf das publizistische Spätwerk Döblins und wählt für seine Analysen die politisch-publizistischen Schriften der 1940er Jahre sowie die von Döblin herausgegebene Zeitschrift „Das Goldene Tor“.
Mit einer gewissen Regelmäßigkeit fragen sich die Nationalphilologien, was ihren eigenständigen Beitrag im Konkurrenzverhältnis zu anderen kulturwissenschaftlichen Fächern heute ausmacht. Nur im Rückblick gibt sich Literatur in Verbindung mit Sprache – erklärtermaßen der primäre Gegenstand nationalphilologischer Fächer – als Medium der kulturellen Selbstverständigung par excellence zu erkennen. Was in der Zeit der Entstehung nationalphilologischer Fächer im 19. Jahrhundert an Universitäten, Verlagen sowie Schulen und innerhalb des sogenannten Bildungsbürgertums konsensfähig gewesen sein mag, ist in der breit aufgestellten Medienlandschaft Deutschlands jedoch keine Selbstverständlichkeit mehr; erst recht nicht im digitalen Zeitalter.
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