Varianz und Interpretation. Die vier Fassungen des minneprogrammatischen Walther-Liedes 27

• Ralf-Henning Steinmetz

In der Diskussion der letzten Jahrzehnte hat sich das Augenmerk der Forschung bei der Textinterpretation immer stärker von den kritisch rekonstruierten Texten der Autorfassungen auf die handschriftlich überlieferten Fassungen verlagert. Je stärker deren Bearbeiter in den Vordergrund traten, um so undeutlicher wurde dahinter das Bild des Autors. Wenn man den Redaktoren einen mehr oder minder beachtlichen Teil an den überlieferten Texten zugesteht und zugleich das traditionelle Autorbild, dessen Konturen nicht selten auf Zirkelschlüssen beruhen, als Orientierungspunkt verloren geht, stellt sich auch die Frage, mit welcher Gewißheit sich die minnetheoretischen Aussagen, die Walther früher als „Vollender und Überwinder“ des klassischen Minnesangs erscheinen ließen, tatsächlich auf Walther zurückführen lassen. Am Beispiel der vier überlieferten Fassungen von Cormeaus Walther-Lied 27 läßt sich zeigen, daß die ursprünglichen Konzeptionen nicht über die Ebene der einzelnen Strophe hinaus faßbar werden.

In the debate on textual interpretation which has taken place in the last few decades, the attention of scholars has increasingly moved away from the authors’ versions of texts, reconstructed by the method of textual criticism, to the manuscript versions. The more the scribes responsible for these manuscript texts come into the foreground, the less clear the picture of the author becomes. If one admits that the editors play a varying but important role in the form of the texts and that the traditional picture of the author, which is not infrequently based on circular reasoning, is lost as a referece point, the question also arises as to the certainly with which the theory of Minne which views Walther as the high point and final figure of classical Minnesang can be attributed to Walther hinself. The example of the four different versions of Song 27 in Cormeau’s edition of Walther shows that the original concepts are not tangible beyond the level of the individual strophe.

Seiten 69 - 86