Einen Text, besonders einen literarischen Text, an eine Person, an eine Sprache und eine Nation zu binden, ist das gängige Deutungs- und Beschreibungsverfahren von Literatur seit der Etablierung einer modernen Literaturwissenschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Es führt zu einer Literaturgeschichte, die durch eben diese Faktoren, durch Person, Sprache, Nation strukturiert und eingegrenzt ist. Das ist zweifellos ein angemessenes Vorgehen für eine Zeit, in der die biographischen Daten reich fließen, die Sprache mit der Nation zusammenfällt und die Nation einen weitgehend einheitlichen Rezeptions- und Identifikationsraum bildet. Diese Voraussetzungen gelten allerdings nicht für alle Arten von Literatur und nicht für alle Epochen. Erst als größeres Quellenmaterial zur Verfügung stand und man in Sprach- und Literaturgesellschaften begann, über die Bedeutung der Muttersprache für die Konstituierung der Nation zu diskutieren, wurden sie geschaffen. Solche Literaturgeschichten orientierten sich gerne am Nationalstaat, ja sie versuchten sogar, bei seiner Konstituierung zu helfen. Sie bedienten sich der Sprache als allgemeines Merkmal einer Nation und nutzten sie als bequeme (oft ahistorische) Abgrenzung von anderen Nationalliteraturen, die genau so verfuhren. Ich brauche jetzt nicht weiter auszuführen, dass ein solches auf die Nation bezogenes Verfahren für die Beschreibung mittelalterlicher Literaturen nicht angemessen ist. Nationalstaaten hat erst die Neuzeit geschaffen. Ihre Grenzen stimmen in vielen Fällen mit denen der älteren geschichtlichen Territorien nicht überein, noch weniger mit den historischen Sprach- und Kulturräumen. Deutschland als Nationalstaat und damit als umfassender Mental- und Identifikationsraum gab es ebenso wenig wie etwa das moderne Belgien oder die Niederlande.
DOI: | https://doi.org/10.37307/j.1868-7806.2006.03.06 |
Lizenz: | ESV-Lizenz |
ISSN: | 1868-7806 |
Ausgabe / Jahr: | 3 / 2006 |
Veröffentlicht: | 2006-07-01 |
Seiten 415 - 429
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